4.7.71

Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt (Rosa von Praunheim, 1971)

»Sind Sie Berliner?« – »Nein. Isch bin zum ersten Mal in Berlin.« – »Und? Gefällt es Ihnen?« – »Ja, wie soll isch das jetzt schon sagen?« Daniel kommt aus der Provinz in die Großstadt. Während ihm monströse Koteletten sprießen und eine üppige Mähne wächst, durchläuft der junge Homosexuelle die schwule (Parallel-)Welt wie ein Fegefeuer der schrillen Trostlosigkeit. Ob Einzimmerwohnung oder Villa, ob Bar oder Freibad, ob Klappe oder Park: überall herrschen Gefühlskälte, Eitelkeit, Jugendkult, Modewahn, Körperterror, Liebesunfähigkeit; Tunte und Lederkerl, Paradiesvogel und warmer Spießer, sie alle fallen trotz, nein: wegen ihres gehetzten Herumfickens, wegen ihrer fanatischen Schwanzfixierung in bodenlose Einsamkeit … Exaltiertes Laientheater, asynchron nachvertonte Dialoge, komplett stumme Schausequenzen, unterrichtsfilmhafte Off-Kommentare – Rosa von Praunheim fügt vollendeten Dilettantismus und ultrakünstlichen Dokumentarstil zu einem sarkastischen Lehrstück der Isolation, zu einer absurden Revue der Deformierung – aber auch zu einem kämpferischen Pamphlet: Am Ende landet der von Szene und Dauergeilheit ausgelaugte Anti-Held auf dem fliederfarbenen Matratzenlager einer schwulen Wohngemeinschaft, die besser, sozialer, bewußter sein, handeln, lieben will: »Werdet stolz auf eure Homosexualität! Raus aus den Toiletten, rein in die Straßen!
 Freiheit für die Schwulen!« PS: Ob die Situation heute, fünf Jahrzehnte nach der Uraufführung des Films, weniger pervers ist als damals, mag jeder, der in ihr lebt, selbst beurteilen.

R Rosa von Praunheim B Rosa von Praunheim, Martin Dannecker, Sigurd Wurl K Robert van Ackeren M diverse S Jean-Claude Peroué P Werner Kließ D Bernd Feuerhelm, Berryt Bohlen, Ernst Kuchling, Volker Eschke | BRD | 67 min | 1:1,37 | f | 4. Juli 1971

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen